Die unerträgliche Feigheit der inneren Emigration

Der neue Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist so gut wie im Sack, kein Zweifel. Während Union und Verräterpartei mittlerweile in jeder Hinsicht als Feinde des Netzes bekannt sind, schenken sich allerdings auch die kleineren Akteure nichts: FDP und Grüne ratifizierten, wo sie konnten; von den berliner Linken wird erwartet, dass sie sich dem Koalitionspartner fügen, wenn es um die Pflicht zu Sendezeitbegrenzungen und Altersauszeichnungen im Internet geht. Thomas Knüwer hält schon keine dieser Parteien mehr für wählbar.

Durchsichtig wirkt hierbei insbesondere der Versuch der Grünen NRW mit Hinweis auf Altlasten und parlamentarische Zwänge die kognitive Dissonanz zu beseitigen, dass irgendwie auch ein Anspruch besteht, Netzpartei sein zu wollen; entlarvend, dass man in Hamburg die Zustimmung zum Staatsvertrag mitbeschloss, nur wenige Tage, bevor die Koalition brach. Und in Thüringen stimmte man selbst aus der Opposition für das Machwerk — trotz vorher angesagter (und mittlerweile abgesägter) Kooperation mit der Piratenpartei.

Um es noch einmal zu betonen: Eine Alterskennzeichnung von potentiell jugendgefährdenden Inhalten wird mit dem neuen JMStV verpflichtend, sofern keine Zugangsbeschränkungen oder Sendezeiten implementiert werden. Bei falscher Kennzeichnung drohen Geldbußen bis zu 500.000€ — wie leicht dies passieren kann, zeigt ein Experiment des AK Zensur: An die 80% der durch Laien vorgenommenen Einstufungen waren falsch; die Inanspruchnahme professioneller Dienste wie etwa der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter ist für Privatleute jedoch kaum zu bezahlen. Ein im Sinne des Gesetzes geeignetes Altersklassifizierungssystem existiert übrigens nicht.

Kurzum: Im Internet Inhalte auch nur vorzuhalten wird zum Problem; deutsche Betreiber von Webseiten werden massiven Rechtsunsicherheiten ausgesetzt — während ausländische Angebote unbehelligt bleiben, was die Mär vom angeblichen Jugendschutz noch absurder wirken lässt.

Die ersten Blogger haben sämtliche ihrer Inhalte nun bereits präemptiv depubliziert — prominentester Vertreter ist wohl isotopp; jegliche Links auf seine Seite führten bereits wenige Stunden nach der Ankündigung auf eine entsprechende Erklärung:

Nach diesem Vertrag müßte ich alle meine Inhalte durchgehen und mit einem Alterslabel versehen. Dafür habe ich keine Zeit und es wäre auch nicht produktiv. […] Wenn ich das nicht mache, öffne ich mich einem beträchtlichen finanziellen Risiko durch Abmahnungen und das will ich nicht tragen.

fxneumann sieht hier eine fatalistische Trotzreaktion, doch das ist es ausdrücklich nicht: Per Mail erklärte mir isotopp, dass er sich erstens anwaltlich beraten ließ und zweitens maximale Rechtssicherheit bei minimalem Einsatz von Mitteln anstrebe, es bliebe so schlicht keine andere Möglichkeit. Vordergründig ist es verständlich, dass er Besseres zu tun hat, als sich und seine Familie einem unkalkulierbaren Risiko auszusetzen und daher die sichere Möglichkeit wählt.

Nichtsdestotrotz halte ich es für grundfalsch, ein jahrelang gewachsenes, öffentliches Archiv effektiv zu vernichten. Schon auf formaler Ebene werden dadurch unzählige Relationen gekappt — so verlinkt etwa Wikipedia mehrmals isotopps Blog und auch bei der soeben erst erschienenen Folge 15 von Wir müssen reden bezieht man sich auf einen mittlerweile depublizierten Artikel. Beim W3C bemerkt man hierzu normativ: Cool URIs don’t change.

Den Inhalt betreffend: Schon beim mittlerweile wieder aufgelegten mspro-Projekt crtl-verlust bedauerte ich die initiale Löschung; isotopp schrieb jedoch häufiger und ist zudem etwa bereits so lange online aktiv, wie ich alt bin — seit nunmehr 23 Jahren. Sein depubliziertes Blog existierte wohl seit 2003; ich kann nicht einmal annähernd abschätzen, was in der Zwischenzeit alles veröffentlicht wurde. Da mit den Artikeln auch die Kommentare unzugänglich gemacht wurden, sind weiterhin ganze Diskurse verloren.

Intuitiv sehe ich diesen Akt als kulturelles Vergehen, ähnlich der Verpixelung bei Google Street View oder dem Depublizieren der Öffentlich-Rechtlichen: Gleichermaßen werden in allen Fällen bereits produzierte, interessante Inhalte zurückgehalten, um arkane Befindlichkeiten Dritter nicht zu stören. Dass es in diesem Fall der Autor selbst ist, der diesen Schritt ausgeführt hat, kann vernachlässigt werden — letztendlich kommen Nutzer nicht mehr an die gewünschten Informationen; dass dies nicht nur in Kauf genommen, sondern genau so beabsichtigt ist, lässt sich aus isotopps Entscheidung ableiten, die Inhalte nicht frei lizenziert anzubieten.

Doch nicht alle, die mit dem Depublizieren einen Selbstmord aus Angst vor dem Tod befürworten, agieren aus Feigheit ob der abstrakten Bedrohung. Felicea etwa sieht Depublizieren als Taktik, denen zu zeigen wie das Internet mit JmStV aussieht; Linus Neumann positioniert sich zwar gegen das Schließen von Blogs, schlägt dann aber vor, wichtige (Bildungs-)Ressourcen nur Erwachsenen und nur zu nachtschlafenden Zeiten zugänglich zu machen. Gemein ist diesen Vorschlägen die Überschätzung der eigenen Relevanz für Entscheidungsträger.

Unabhängig von der Rechtfertigung: Wer die eigenen Inhalte nun beseitigt, begeht Sabotage am Netz und spielt so den in Staatskanzleien, Ministerien und Landtagen sitzenden Internetfeinden in die Hände; umgekehrt lässt sich wohl schließen, dass den Betreffenden wenig an den durch sie geschaffenenen Teilen der Netzkultur liegt. Wer befürwortet, sich auf diese Weise zurückzuziehen, überlässt die Öffentlichkeit wohl gerne den Arschlöchern.

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01. Dezember 2010 von erlehmann
Kategorien: Deutschland, Netzpolitik, Rants, Recht | Schlagwörter: , , , , , , | 6 Kommentare

Kommentare (6)

  1. Ich glaube ebenfalls, dass da nix so heiß gegessen wird, wie es gerade aufgekocht wird. Der JMStV hat bisher auch keinen interessiert, und ich bin gelassen genug, einfach alles weiter wie bisher zu machen. Wenn man sich nach allen deutschen Gesetzen richtete, könnte man gar nichts mehr machen, und wenn man jede Tat in der Angst vor Abmahnungen bewertet, braucht man morgens gar nimmer aufstehen. Ich erinnere mich noch gut an die Gravenreuth-Zeit (er ruhe in Frieden), der hat nämlich beileibe nicht alles gewonnen, sondern am Ende alles verloren.

  2. Pingback: JMStV « Dia-Blog

  3. Pingback: Tweets that mention Zu Erfolgen des JMStV, dt. Blogger zur Depublizistik einzuschüchtern: "Die unerträgliche Feigheit der inneren Emigration" -- Topsy.com

  4. Pingback: JMStV: „Parlamentarische Zwänge“? My Ass! | Gormulus

  5. Ich denke ähnlich wie Felicea über Isotopps Blog-Seppuku.
    Es gibt hier um die brutalstmögliche digitale Form der Aufmerksamkeitsgenerierung in
    nicht dauer-netzpolitisierten Kreisen für dieses noch immer nicht allgemein bekannte Thema.
    Wenn es dabei zu (vermutlich temporären!) Schäden an Informationsverfügbarkeit kommt, so dient das der effektiven Veranschaulichung einer möglichen Konsequenz des JMStV, ich hätte es so auch nicht getan aber es ist durchaus eine vertretbare Option* und keine Form von Feigheit oder vorauseilendem Gehorsam.

    Verrat am Netz?
    Link rot ist mindestens genauso charakteristisch für das Netz,
    wie das es angeblich nichts vergessen würde.

    (Vielleicht täte es schon ein trickreiches Stylesheet welches nur mit in Berliner Automatencasinos erhältlichen Anglyphen lesbar gemacht werden kann. Und somit wäre auch die Alterskontrolle gewährleistet bei gleichzeitig flächendeckender Verfügbarkeit. Soviel zum Sarkasmus.)

    Ich übe mich derweil in Gelassenheit erleichtert durch unrationales Vertrauens in die Vernunft des BVerfG.

  6. Blaaaaa sag ich da nur. Lies Dir mal http://www.lawblog.de/index.php/archives/2010/12/01/warum-blogger-gelassen-bleiben-konnen/ und dann aufhoeren Panik zu machen.

    IMHO kan nma neinfahc mal sagen: JMStV > /dev/ignore
    und abwarten bis sich ein Jurist die Muehe macht eine Verfassungsklage zu formulieren die man mitzeichnen kann.

    Ansonsten: Don’t Panic!

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